Donnerstag, 22. September 2016

Weshalb darf der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes in der jetzigen Form auf keinen Fall Gesetz werden?

Weshalb darf der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes
in der jetzigen Form auf keinen Fall Gesetz werden?

Ein Essay des Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben Düsseldorf
Verfasser: Alexander Drewes, Jurist

Düsseldorf. Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist ein Gesetzentwurf, der sich anmaßt, die Teilhabe behinderter Menschen wesentlich befördern zu wollen. „Zu wollen“ deshalb, weil dieser an vielen Stellen an seinem eigenen Anspruch scheitert.
Der von der #Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes (#BTHG-E) will das aus dem Fürsorgerecht der 1920er Jahre stammende Prinzip der Eingliederungshilfe komplett auf neue Füße stellen. Sowohl der Gesetzestext als auch die Begründung klingen in großen Teilen „modern“, in Wahrheit sind sie es aber nicht.
Langjährig tradierte Prinzipien werden, sofern sie zugunsten behinderter Menschen gewirkt haben, einfach „über Bord geworfen“.
So soll ein neuer Grundsatz etabliert werden, der die Hilfe zur #Pflege im Rang vor die #Eingliederungshilfe setzt. In der Eingliederungshilfe darf weiterhin in Zukunft nicht in nennenswertem Umfang Vermögen angespart werden, wenn ein behinderter Mensch im Leistungsbezug ist. Der Gesetzgeber kann jedoch – abgesehen von fiskalpolitischen Erwägungen – nicht erklären, weshalb er eine Anrechnung von #Einkommen und #Vermögen bei Leistungen für einen Umstand, der in der Person des behinderten Menschen liegt (nämlich dessen körperliche, Sinnes-, emotionale oder intellektuelle Beeinträchtigung), überhaupt vornimmt. Bezieht ein behinderter Mensch entweder ausschließlich Leistungen der Hilfe zur Pflege oder kumulativ auch noch solche der Eingliederungshilfe, bestimmt der Gesetzentwurf eine zusätzliche Ungerechtigkeit in der Ungerechtigkeit der erhöhten Vermögens- und Einkommensfreigrenzen. Dies tut er dadurch, dass er die Höhe der Freibeträge einfach auf dem bisherigen – sehr, sehr niedrigen – Stand belässt. Das heißt: Menschen, die Einkünfte erzielen und „nur“ Eingliederungshilfe beziehen, werden nunmehr ein bisschen weniger arm gemacht als bislang. Menschen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werden genau so arm belassen, wie das schon heute der Fall ist.
Schon das stellt eine evidente Ungleichbehandlung eines dem Grunde nach gleichen Sachverhaltes dar. Das ist nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 #Grundgesetz (#GG) einfach verfassungswidrig.
Die Bundesregierung kann auch nicht erklären, weshalb sie in Zukunft Leistungen „poolen“ will. Beim „Pooling“ ist angedacht, dass mehrere Leistungsbezieher einen identischen Leistungserbringer teilweise oder sogar zur gleichen Zeit nutzen.
Die Erklärung kann auch hier ausschließlich eine fiskalpolitische sein, einen ansatzweise nachvollziehbaren Grund im Hinblick der Qualität der Leistungserbringung liefert der Entwurf nicht. Er könnte das auch gar nicht, weil das sinnlogisch völlig unmöglich ist. Wie sich mehrere Nutzer zur gleichen Zeit ein und dieselbe Assistenzkraft teilen können sollen, wenn sie gleichzeitig – ggf. sogar differente – Bedarfe haben, auch das bleibt das Geheimnis des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
Bislang gilt im Recht der Eingliederungshilfe, dass zu erbringende Leistungen individualisiert, bedarfs- und kostendeckend zu erbringen sind. Zugegeben, daran halten sich viele Leistungsträger schon heute nicht. Leistungen werden ohne eine konkrete Bedarfsfeststellung erbracht, sie werden pauschaliert und eben nicht individualisiert erbracht. Dies führt regelmäßig zu einer Unterdeckung des tatsächlichen Bedarfs. Leistungsempfängern wird häufig angesonnen, sie sollten, damit Kosten gespart werden, die Leistungen nicht durch Fachkräfte oder doch wenigstens durch von den Betroffenen ausgesuchten Kräften erbracht werden, sondern von Diensten, die regelmäßig konkrete Vereinbarungen mit dem Leistungsträger haben, von denen zwar der Leistungsträger profitiert, (weil er Kosten spart) und auch der Dienst profitiert, (weil er regelmäßig seine Kosten pauschal abrechnen kann), die aber den Betroffenen überhaupt nichts nutzen, weil sie qualitativ unterwertig versorgt werden sollen.
Insofern klingt es ja zunächst gut, wenn die Bundesregierung schreibt, es bedürfe bestimmter Verrichtungen, damit ein Bedarf überhaupt festgestellt werden könne. Dabei wird jedoch nach einem Trick verfahren, dass wenigstens aus fünf von neun Bereichen die Notwendigkeit der konkreten Hilfestellung bei der Teilhabe nachgewiesen werden muss (sofern Assistenzleistungen benötigt werden, immer noch aus drei von neun). Das hebelt den #Bedarfsdeckungsgrundsatz weitgehend aus, weil viele Menschen zwar hohe Bedarfe an Hilfen haben, diese aber häufig nicht in fünf von den neun Bereichen, die der Gesetzgeber nennt. Das bedeutet z.B. für blinde Studierende, dass sie künftig keine Assistenzkosten für die notwendigen Vorlesekräfte mehr bekommen würden, weil sie in nicht ausreichend vielen Bereichen einen notwendigen Bedarf nachweisen können. Für gewöhnlich kann und muss dem #Sozialgesetzgeber unterstellt werden, dass er es regelmäßig wenigstens gut meint mit den Betroffenen, die Regelungen sodann aber entweder zu bürokratischen Monstren verkommen oder die Bedarfsbeschreibungen in den gesetzlichen Normierungen anfangs dermaßen an den realen Bedarfen vorbeigehen, dass die Gesetze mehrfach nachgebessert werden müssen, ehe sie einem Standard entsprechen, der den Betroffenen auch wirklich dienlich ist. Ein Paradebeispiel dafür ist die Einführung der Pflegeversicherung 1994. Bei Durchsetzung des vorliegenden Entwurfes werden fundamentale Prinzipien des Rechts der Eingliederungshilfe wie der Bedarfsdeckungsgrundsatz durchbrochen und ein Individualisierungsgrundsatz etabliert, der nicht individuell, sondern modular vorgeht.
Letzteres wäre dann unproblematisch, wenn sich der individuelle Hilfebedarf aus jedem einzelnen der neun genannten Module herleiten ließe, es bedarf derer allerdings – wie oben schon geschrieben – wenigstens fünf.
Stellen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, der Sie nicht beeinträchtigt sind und mithin in ihrer Lebensgestaltung auch nicht behindert werden, einfach einmal folgende Situation vor: Sie kommen nachmittags müde von der Arbeit nach Hause. Sie laufen eilig in den Keller, um für die Zubereitung des Abendessens eine Konserve zu holen. Beim Treppenabstieg fallen Sie so unglücklich, dass Sie sich einen Halswirbel an einer Stelle brechen, die die wesentlichen motorischen Nervenbahnen dergestalt durchtrennt, so dass Sie eine hohe Querschnittslähmung erfahren. In aller Regel ist eine solche Schädigung irreparabel, Sie sind also für den Rest Ihres Lebens auf assistive Leistungen bei vielen Verrichtungen des täglichen Lebens angewiesen.
Sie benötigen also permanente Assistenz, vielleicht sogar 24 Stunden am Tag. Bislang haben Sie ein ordentliches Einkommen erzielt und – allein schon für die Altersvorsorge, aber vielleicht wollen die Kinder ja später auch studieren, das neue Automobil sollte nächsthin gekauft werden usw. – in gewissem Umfang Vermögen angespart. An eine private Unfallversicherung, die Risiken abdeckt, wie dasjenige, was Ihnen jetzt wiederfahren ist, haben Sie vorher natürlich gar nicht gedacht. Die hohen Assistenzkosten können Sie nicht aus eigener Tasche bezahlen (es kommen schnell Beträge im fünfstelligen Bereich zusammen), so dass Sie unweigerlich auf Leistungen der Hilfe zur Pflege, ggf. auch noch zur Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe angewiesen sind.
Die Anschaffung des neuen, vielleicht sogar ein wenig luxuriöseren Fahrzeugs, die Modernisierung des Hauses, die Übernahme der Kosten für eine hochwertige Kinder und – last not least – eine angemessene Altersvorsorge? Vergessen Sie es!
Sowohl nach den alten Regelungen, den noch aus dem fürsorgerechtlichen Gedanken stammenden Einkommens- und Vermögensanrechnungstatbeständen, als auch – deutlich abgemildert, aber eben in keiner Weise abgeschafft – nach dem jetzt geplanten neuen Recht werden Sie faktisch systematisch arm gemacht, Sie werden massiv anders behandelt, als dies bei Menschen der Fall ist, die nicht auf Eingliederungshilfeleistungen angewiesen sind. Die Leistungskomponenten nennen sich nach dem BTHG-E zwar #Teilhabeleistungen, allerdings ändert das nichts an der grundlegenden Systematik, die fast ausschließlich Begrifflichkeiten austauscht, die dem #Fürsorgerecht zugrundeliegenden gedanklichen Modelle jedoch im Wesentlichen nicht antastet. Auch Ihr Lebens- oder Ehepartner genießt nur begrenzten Schutz hinsichtlich seiner oder ihrer eigenen Einkünfte und Vermögen, er oder sie „haftet“ sozusagen dafür mit, dass Sie jetzt ein beeinträchtigter Mensch sind, der auch noch dadurch behindert wird, dass der Staat meint, diesen wesentlich schlechter behandeln zu müssen, als er das normalerweise mit seinen Bürgern tut. Abgesehen von dieser Ungerechtigkeit ist auch nicht nachvollziehbar, weshalb der verfassungsrechtliche Grundsatz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, wie er im Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG niedergelegt ist, immer dann keine oder nur noch eine rudimentäre Geltung haben soll, wenn der Staat, gleich auf welcher Ebene, Geld aus Steuermitteln für diesen Personenkreis aufwenden muss.
Der BTHG-E entspricht in weiten Teilen nicht den Vorgaben der #Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-#BRK); er widerspricht auch fundamental der Verfassung dieses Landes. Die UN-BRK sieht nämlich eine einkommens- und vermögensunabhängige gleichberechtigte Teilhabe im örtlichen und überörtlichen Sozialraum vor. Wie eine gleichberechtigte Teilhabe möglich sein soll, wenn Betroffene z.B. selbst für die Kinokarte einer notwendigen Assistenzkraft zunächst mit dem zuständigen #Sozialamt streiten müssen (und das würde sich im Wesentlichen auch durch die Schaffung des BTHG nicht ändern), bleibt allerdings ein ungelöstes Rätsel der Bundesregierung.
Folglich: Wir brauchen natürlich ein modernes und den verfassungsrechtlichen und überstaatlichen Vorgaben genügendes Teilhabeleistungs- und -sicherungsgesetz. Ein Gesetz wie den jetzt vorgelegten BTHG-E brauchen die Betroffenen in ihrer Gesamtheit sicherlich nicht, weil es im Großen und Ganzen die #Einrichtungsträger finanziell absichert, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ aufweicht und #Teilhabe, selbst da, wo sie bislang möglich war, teilweise sogar verunmöglicht.
Doch nicht nur die Betroffenen unmittelbar, auch die Angehörigen, die z.B. bei beeinträchtigten Menschen, die selbst ihre Bedürfnisse nicht konkret äußern können, lässt der Gesetzgeber nach wie vor vollends „im Regen stehen“. Er hilft auch diesem Personenkreis in keiner Weise, sondern vertraut einfach darauf, dass die Angehörigen ihre gesamten finanziellen Mittel, ihre gesamte körperliche und emotionale Kraft auf die Versorgung und Pflege der beeinträchtigten Familienangehörigen einsetzen und dafür vom Staat auch noch in jeder denkbaren Art und Weise schikaniert und finanziell „geschröpft“ werden.
Dieser Entwurf ist kein solcher, der behinderte Menschen auf Augenhöhe behandelt, dieser Entwurf fundamentiert, zementiert und schafft zum Teil in neuen Bezügen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen nicht-beeinträchtigten Menschen, die keiner staatlichen Leistungen durch die Sozialhilfeverwaltung bedürfen und solchen, die das tun. Schon das bisherige System der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege hat vor Ungerechtigkeiten gestrotzt; wie oben dargestellt, beabsichtigt die Bundesregierung, die Situation der betroffenen beeinträchtigten Menschen eher zu „verschlimmbessern“, als eine wirklich fortschrittliche Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Der BTHG-E ist mithin eher ein „Behinderungs“- als ein echtes #Teilhabegesetz.
Die einzige Frage, die sich uns stellen muss: Opponieren wir grundsätzlich gegen dieses Gesetz oder lassen wir es – mit den marginalen Änderungen, die die Fraktionen im Deutschen #Bundestag und der #Bundesrat sicherlich durchsetzen werden – passieren und hoffen hernach auf die Rechtsprechung des #Bundesverfassungsgericht (#BVerfG)? Gespenster haben es an sich, dass man sie nicht sieht – von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt kann dieser Entwurf, wenn er denn kommen sollte und gemessen am Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes vor dem BVerfG nicht bestehen.

40235 Düsseldorf, Grafenberger Allee 368 am 21.9.2016

Keine Kommentare: